Abschied von gestern/Gelegenheitsarbeit einer Sklavin – Edition Filmmuseum: Eine Reise in die deutsche Nachkriegsrealität
Rainer Werner Fassbinders Spielfilmdebüt *Abschied von gestern* (1966), oft auch unter dem Zweittitel *Gelegenheitsarbeit einer Sklavin* bekannt, ist weit mehr als nur ein Erstlingswerk. Er ist ein kraftvolles, schonungsloses und zutiefst berührendes Porträt einer jungen Frau im Nachkriegsdeutschland, die versucht, in einer Gesellschaft Fuß zu fassen, die ihr mit Misstrauen und Ablehnung begegnet. Die Edition Filmmuseum präsentiert diesen Meilenstein des Neuen Deutschen Films in einer restaurierten Fassung, die die Brillanz von Fassbinders Vision und die Intensität der schauspielerischen Leistungen neu erstrahlen lässt.
Die Geschichte: Eine Suche nach Identität und Zugehörigkeit
Anita G., gespielt von Gudrun Steinlechner, ist eine junge Frau, die aus der DDR in die Bundesrepublik flieht. Geprägt von ihrer Vergangenheit und der damit verbundenen Stigmatisierung, kämpft sie mit Vorurteilen und bürokratischen Hürden. Ihre Suche nach einem Platz in der westdeutschen Gesellschaft wird zu einer Odyssee durch Institutionen, Beziehungen und Gelegenheitsjobs. Sie wird zur „Gelegenheitsarbeiterin“, zur „Sklavin“ eines Systems, das sie einerseits aufnimmt, andererseits aber auch ausgrenzt und instrumentalisiert.
Fassbinder zeichnet ein komplexes Bild von Anita, die zwischen Anpassung und Rebellion schwankt. Sie sehnt sich nach Liebe und Anerkennung, doch ihre Erfahrungen haben sie misstrauisch und vorsichtig gemacht. Ihre Beziehungen zu Männern sind von Ausbeutung und Enttäuschung geprägt. Sie ist eine Überlebenskünstlerin, die versucht, ihre Würde in einer Welt zu bewahren, die sie systematisch untergräbt.
Fassbinders Regie: Ein Spiegel der Gesellschaft
*Abschied von gestern* ist ein Film, der unter die Haut geht. Fassbinder scheut sich nicht, die hässlichen Seiten der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu zeigen: die spießbürgerliche Enge, die Vorurteile gegenüber Fremden und die Verdrängung der eigenen Vergangenheit. Seine Inszenierung ist rau und direkt, oft improvisiert, aber immer authentisch. Er verwendet dokumentarische Elemente und bricht mit konventionellen Erzählstrukturen, um die Realität so unverfälscht wie möglich darzustellen.
Der Film ist geprägt von langen Einstellungen, ungewöhnlichen Kamerawinkeln und einer schnörkellosen Bildsprache. Fassbinder verzichtet auf jegliche Beschönigung und präsentiert die Charaktere in all ihrer Verletzlichkeit und Widersprüchlichkeit. Er legt den Fokus auf die Dialoge, die oft von Bitterkeit, Zynismus und der Unfähigkeit zur ehrlichen Kommunikation geprägt sind. Die Musik von Peter Sandloff unterstreicht die melancholische und hoffnungslose Stimmung des Films.
Gudrun Steinlechner: Eine herausragende Leistung
Gudrun Steinlechners Darstellung der Anita G. ist schlichtweg brillant. Sie verkörpert die Zerrissenheit, die Verletzlichkeit und die innere Stärke ihrer Figur auf eine Weise, die zutiefst berührt. Ihr Spiel ist authentisch und nuanciert, sie vermittelt die Emotionen von Anita G. auf eine Weise, die den Zuschauer unmittelbar in ihren Bann zieht. Steinlechner, die zu diesem Zeitpunkt noch Schauspielschülerin war, liefert eine Leistung ab, die den Film maßgeblich prägt und ihm seine emotionale Tiefe verleiht.
Die Edition Filmmuseum: Ein Muss für Filmfans
Die Edition Filmmuseum präsentiert *Abschied von gestern* in einer sorgfältig restaurierten Fassung, die die ursprüngliche Bildqualität und den Ton des Films wiederherstellt. Die Edition enthält zudem umfangreiches Bonusmaterial, darunter Interviews mit Beteiligten, Hintergrundinformationen zum Film und zur Entstehungszeit sowie Essays von Filmwissenschaftlern. Diese Edition ist ein Muss für alle Filmfans, die sich für das Werk von Rainer Werner Fassbinder, den Neuen Deutschen Film und die deutsche Nachkriegsgeschichte interessieren.
Themen und Motive: Eine tiefere Analyse
Neben der zentralen Thematik der Ausgrenzung und der Suche nach Identität behandelt *Abschied von gestern* eine Vielzahl weiterer relevanter Themen:
- Die Rolle der Frau in der Gesellschaft: Anita G. ist eine Frau, die in einer von Männern dominierten Welt um ihre Rechte und ihre Selbstbestimmung kämpft. Sie wird oft als Objekt behandelt und erlebt sexuelle Belästigung und Ausbeutung.
- Die deutsche Teilung: Der Film thematisiert die Auswirkungen der deutschen Teilung auf das Leben der Menschen. Anita G. ist eine Vertriebene, die zwischen zwei Welten steht und sich nirgendwo zu Hause fühlt.
- Die Vergangenheitsbewältigung: Der Film wirft Fragen nach der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit auf. Die spießbürgerliche Enge und die Verdrängung der Vergangenheit in der westdeutschen Gesellschaft werden kritisch beleuchtet.
- Die Liebe als Ware: Die Beziehungen von Anita G. zu Männern sind oft von Berechnung und Ausbeutung geprägt. Liebe wird zur Ware, die man kaufen und verkaufen kann.
Die Bedeutung des Films heute
Auch heute, mehr als 50 Jahre nach seiner Entstehung, hat *Abschied von gestern* nichts von seiner Relevanz verloren. Die Themen, die Fassbinder anspricht, sind nach wie vor aktuell: Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit, die Rolle der Frau in der Gesellschaft, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Der Film ist ein Mahnmal gegen Intoleranz und ein Appell für mehr Menschlichkeit und Solidarität.
Die restaurierte Fassung: Ein neues Seherlebnis
Die restaurierte Fassung von *Abschied von gestern* ermöglicht es, den Film in einer Qualität zu erleben, die dem Original nahekommt. Die Farben sind kräftiger, der Ton ist klarer und die Details sind besser erkennbar. Die Restaurierung hat den Film von Staub und Kratzern befreit und ihm seinen ursprünglichen Glanz zurückgegeben. Das Ergebnis ist ein neues Seherlebnis, das die Intensität und die Brillanz von Fassbinders Werk noch stärker hervorhebt.
Fazit: Ein Meisterwerk des Neuen Deutschen Films
*Abschied von gestern/Gelegenheitsarbeit einer Sklavin* ist ein Meisterwerk des Neuen Deutschen Films, ein kraftvolles und berührendes Porträt einer jungen Frau, die in einer zerrissenen Gesellschaft um ihre Identität und ihre Würde kämpft. Die Edition Filmmuseum präsentiert diesen Meilenstein in einer restaurierten Fassung, die die Brillanz von Fassbinders Vision und die Intensität der schauspielerischen Leistungen neu erstrahlen lässt. Ein Film, der zum Nachdenken anregt, der unter die Haut geht und der auch heute noch von großer Bedeutung ist.
Filmdetails im Überblick
Kategorie | Information |
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Deutscher Titel | Abschied von gestern/Gelegenheitsarbeit einer Sklavin |
Originaltitel | Abschied von gestern |
Regie | Rainer Werner Fassbinder |
Drehbuch | Rainer Werner Fassbinder |
Hauptdarsteller | Gudrun Steinlechner, Hans Hirschmüller |
Erscheinungsjahr | 1966 |
Länge | 87 Minuten |
Genre | Drama |