Alice in den Städten: Eine melancholische Reise der Findung
Wim Wenders‘ „Alice in den Städten“ aus dem Jahr 1974 ist mehr als nur ein Film – es ist eine zutiefst berührende und nachdenkliche Reise durch das Nachkriegsdeutschland und die Vereinigten Staaten der 70er Jahre. Mit seiner einfühlsamen Kameraführung und dem feinen Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen entwirft Wenders ein melancholisches Roadmovie, das die Themen Entwurzelung, Identitätssuche und die Bedeutung von Verbindungen auf subtile Weise erkundet. Der Film markiert einen Wendepunkt in Wenders‘ Karriere und etablierte ihn als einen der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films.
Die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft
„Alice in den Städten“ erzählt die Geschichte von Philip Winter (Rüdiger Vogler), einem deutschen Journalisten und Fotografen, der mit einer Schreibblockade in den USA zu kämpfen hat. Er soll über die amerikanische Kultur berichten, findet aber keinen Zugang zu ihr. Seine Versuche, das Land und seine Menschen in Bildern festzuhalten, scheitern an seiner eigenen inneren Leere und seinem Gefühl der Entfremdung. Am Flughafen in New York trifft er auf eine junge Frau namens Lisa (Lisa Kreuzer) und ihre neunjährige Tochter Alice (Yella Rottländer). Lisa bittet Philip, sich um Alice zu kümmern, da sie dringende Angelegenheiten hat und später nachkommen will. Doch Lisa taucht nicht wieder auf, und Philip findet sich plötzlich in der Verantwortung für das Mädchen wieder.
Die unfreiwillige Vaterschaft stellt Philip vor eine große Herausforderung. Er ist überfordert von der Situation, unfähig, die Bedürfnisse des Kindes zu verstehen und sich um sie zu kümmern. Alice hingegen ist misstrauisch und verschlossen. Sie hat bereits eine gewisse Lebenserfahrung und begegnet Philip zunächst mit Skepsis. Doch im Laufe ihrer gemeinsamen Reise entwickelt sich zwischen den beiden eine tiefe und ungewöhnliche Freundschaft. Sie begeben sich auf die Suche nach Alice’s Großmutter, eine Reise, die sie durch das Ruhrgebiet führt und ihnen ermöglicht, einander besser kennenzulernen.
Eine Reise durch das geteilte Deutschland
Die Reise von Philip und Alice ist nicht nur eine Suche nach einem bestimmten Ort, sondern auch eine Reise in die Vergangenheit und eine Auseinandersetzung mit der deutschen Identität. Das geteilte Deutschland der 70er Jahre dient als Kulisse für ihre Odyssee. Die trostlosen Industrielandschaften des Ruhrgebiets, die grauen Betonbauten und die verlassenen Straßen spiegeln die innere Verfassung der Protagonisten wider. Sie sind auf der Suche nach Halt und Orientierung in einer Welt, die sich im Umbruch befindet.
Wenders fängt die Atmosphäre dieser Zeit auf eindringliche Weise ein. Die Schwarz-Weiß-Bilder verleihen dem Film eine besondere Authentizität und unterstreichen die Melancholie der Geschichte. Die Kamera beobachtet die Figuren mit großer Sensibilität, fängt ihre Blicke, ihre Gesten und ihre kleinen Momente der Zärtlichkeit ein. Die Dialoge sind sparsam, aber prägnant. Oftmals sprechen die Bilder mehr als tausend Worte.
Die Kraft der Bilder
Ein zentrales Thema des Films ist die Bedeutung der Bilder und ihre Fähigkeit, die Realität zu erfassen und zu interpretieren. Philip ist Fotograf, aber er hat Schwierigkeiten, die Welt um ihn herum in Bilder zu fassen. Er fühlt sich von der Bilderflut der modernen Gesellschaft überwältigt und unfähig, etwas Neues und Authentisches zu schaffen. Alice hingegen hat einen unvoreingenommenen Blick auf die Welt. Sie sieht die Dinge mit Kinderaugen und entdeckt Schönheit und Poesie in den einfachsten Dingen.
Durch Alice lernt Philip, die Welt wieder neu zu sehen. Sie hilft ihm, seine kreative Blockade zu überwinden und die Kraft der Bilder neu zu entdecken. Gemeinsam machen sie Fotos von ihrer Reise, Bilder, die nicht nur die äußere Realität festhalten, sondern auch ihre inneren Erfahrungen und Gefühle widerspiegeln. Die Fotos werden zu einem Medium der Kommunikation und des Verständnisses zwischen den beiden.
Die Suche nach Identität und Zugehörigkeit
„Alice in den Städten“ ist auch eine Geschichte über die Suche nach Identität und Zugehörigkeit. Philip ist ein Mann ohne Wurzeln, der sich in der Welt verloren fühlt. Er ist auf der Suche nach einem Ort, an dem er sich zu Hause fühlen kann, nach einer Bedeutung in seinem Leben. Alice ist ebenfalls auf der Suche nach ihrer Identität. Sie kennt ihren Vater nicht und ihre Mutter ist abwesend. Sie sehnt sich nach Geborgenheit und einem Gefühl der Zugehörigkeit.
Auf ihrer gemeinsamen Reise finden Philip und Alice einander. Sie werden zu einer Familie auf Zeit und geben einander Halt und Orientierung. Sie lernen, Verantwortung füreinander zu übernehmen und sich gegenseitig zu unterstützen. Durch ihre Freundschaft finden sie ein Stück weit zu sich selbst und entdecken die Bedeutung von zwischenmenschlichen Beziehungen.
Wim Wenders‘ Meisterwerk
„Alice in den Städten“ ist ein Meisterwerk des Neuen Deutschen Films. Der Film zeichnet sich durch seine poetische Bildsprache, seine einfühlsamen Charaktere und seine tiefgründigen Themen aus. Wenders gelingt es, eine universelle Geschichte über die Suche nach Identität, die Bedeutung von Freundschaft und die Kraft der Bilder zu erzählen.
Der Film hat bis heute nichts von seiner Aktualität verloren. Er berührt die Zuschauer mit seiner Ehrlichkeit und seiner Menschlichkeit. „Alice in den Städten“ ist ein Film, der zum Nachdenken anregt und lange im Gedächtnis bleibt.
Ein Blick hinter die Kulissen
Die Entstehung von „Alice in den Städten“ war von Spontanität und Improvisation geprägt. Wenders hatte zunächst keine feste Drehbuchvorlage, sondern entwickelte die Geschichte während der Dreharbeiten. Er ließ sich von den Orten und den Begegnungen mit den Menschen inspirieren. Die Chemie zwischen Rüdiger Vogler und Yella Rottländer war entscheidend für den Erfolg des Films. Die beiden Schauspieler harmonierten hervorragend miteinander und brachten die ungewöhnliche Freundschaft zwischen Philip und Alice auf authentische Weise zum Ausdruck.
Der Film wurde an verschiedenen Orten in Deutschland und den USA gedreht, darunter New York, Wuppertal, München und Bochum. Die Drehorte wurden sorgfältig ausgewählt, um die Atmosphäre der Geschichte zu unterstreichen. Die Schwarz-Weiß-Kameraführung von Robby Müller trug maßgeblich zur visuellen Gestaltung des Films bei.
Die Musik
Der Soundtrack von „Alice in den Städten“ ist ein wichtiger Bestandteil des Films. Er besteht aus einer Mischung aus klassischen und zeitgenössischen Musikstücken, die die Stimmung der einzelnen Szenen unterstreichen. Die Musik von Chuck Berry, Can und Van Morrison verleiht dem Film eine besondere Atmosphäre und trägt dazu bei, die Emotionen der Protagonisten zu vermitteln.
Die Bedeutung des Films
„Alice in den Städten“ gilt als einer der wichtigsten Filme des Neuen Deutschen Films. Er markierte einen Wendepunkt in Wenders‘ Karriere und etablierte ihn als einen der bedeutendsten Regisseure seiner Generation. Der Film wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Deutschen Filmpreis in Gold.
Die Themen, die in „Alice in den Städten“ behandelt werden, sind bis heute relevant. Der Film regt dazu an, über die Bedeutung von Identität, Zugehörigkeit und Freundschaft nachzudenken. Er erinnert uns daran, dass es wichtig ist, die Welt mit offenen Augen zu sehen und die Schönheit im Alltäglichen zu entdecken.
Zusammenfassung
„Alice in den Städten“ ist ein berührendes Roadmovie über eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen einem Journalisten mit Schreibblockade und einem verlassenen Mädchen. Auf der Suche nach Alice’s Großmutter reisen sie durch das geteilte Deutschland und lernen, einander zu vertrauen und sich gegenseitig Halt zu geben. Der Film ist ein Meisterwerk des Neuen Deutschen Films, der mit seiner poetischen Bildsprache, seinen einfühlsamen Charaktere und seinen tiefgründigen Themen bis heute begeistert.
Darsteller und ihre Rollen
Darsteller | Rolle |
---|---|
Rüdiger Vogler | Philip Winter |
Yella Rottländer | Alice van Dahlen |
Lisa Kreuzer | Lisa van Dahlen |
Edda Köchl | Angela |
Ernest Boehm | Polizist |
Auszeichnungen (Auswahl)
- 1974: Goldene Leinwand
- 1974: Deutscher Filmpreis (Filmband in Gold)
- 1974: Filmpreis der deutschen Filmkritik