Bohnenstange (Beanpole) – Eine Reise durch die Narben des Krieges
In den Ruinen des Nachkriegs-Leningrads, inmitten von zerbombten Gebäuden und gebrochenen Herzen, entfaltet sich eine Geschichte von außergewöhnlicher Intensität und berührender Menschlichkeit: Bohnenstange (im Original „Dylda“), ein Film des russischen Regisseurs Kantemir Balagov. Dieser Film ist mehr als nur ein Drama; er ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Trauma, Verlust, und der Suche nach Sinn und Leben in einer Welt, die von Krieg und Zerstörung gezeichnet ist.
Die Handlung: Ein Leben zwischen Trümmern und Träumen
1945. Der Zweite Weltkrieg hat Leningrad verwüstet und tiefe Wunden in die Seelen seiner Bewohner gerissen. Zwei junge Frauen stehen im Zentrum dieser Erzählung: Iya, genannt „Bohnenstange“ aufgrund ihrer immensen Größe, und ihre Freundin Masha. Iya arbeitet in einem Lazarett, wo sie sich um die traumatisierten Soldaten kümmert, die aus dem Krieg zurückgekehrt sind. Sie ist zart, ungeschickt und leidet unter Anfällen, die sie in eine Art Starre versetzen. Masha hingegen ist eine Soldatin, die an die Front zurückkehrt und von einem schweren Verlust gezeichnet ist. Sie fordert etwas Unfassbares von Iya.
Die Beziehung zwischen Iya und Masha ist das Herzstück des Films. Sie ist geprägt von tiefer Zuneigung, Schuldgefühlen und einem unausgesprochenen Pakt, der durch die traumatischen Ereignisse der Vergangenheit geschmiedet wurde. Ihre Interaktionen sind oft subtil, aber voller emotionaler Sprengkraft. Sie navigieren durch eine Welt, in der die Grenzen zwischen Leben und Tod, Liebe und Verlust verschwimmen. Sie suchen verzweifelt nach einem Weg, in einer zerstörten Welt wieder Fuß zu fassen und eine Zukunft aufzubauen, die Hoffnung verspricht.
Die Figuren: Gebrochene Seelen auf der Suche nach Heilung
Balagov zeichnet ein nuanciertes Porträt zweier junger Frauen, die auf unterschiedliche Weise von den Schrecken des Krieges gezeichnet sind:
- Iya (Viktoria Miroshnichenko): Iya, die „Bohnenstange“, ist eine zerrissene Figur. Ihre körperliche Präsenz steht im Kontrast zu ihrer inneren Zerbrechlichkeit. Sie ist fürsorglich und empathisch, aber auch von Schuldgefühlen und Ängsten geplagt. Sie sehnt sich nach einem normalen Leben, nach Liebe und Akzeptanz, aber die Vergangenheit wirft lange Schatten auf ihre Zukunft.
- Masha (Vasilisa Perelygina): Masha ist eine Soldatin, die an die Front zurückkehrt und von einem schweren Verlust traumatisiert ist. Sie ist stark und willensstark, aber auch von tiefer Trauer und Verzweiflung gezeichnet. Sie klammert sich an Iya als ihre einzige Verbindung zur Vergangenheit und zur Hoffnung auf eine Zukunft.
Neben Iya und Masha bevölkern weitere interessante Charaktere die Welt von „Bohnenstange“: traumatisierte Soldaten, die im Lazarett behandelt werden, Ärzte und Krankenschwestern, die versuchen, inmitten des Chaos Ordnung zu schaffen, und die Überlebenden, die versuchen, in den Ruinen Leningrads ein neues Leben zu beginnen. Sie alle tragen ihre eigenen Narben und kämpfen mit den Folgen des Krieges.
Die Themen: Trauma, Verlust, und die Suche nach Sinn
„Bohnenstange“ ist ein Film, der sich mit einer Vielzahl von komplexen und tiefgründigen Themen auseinandersetzt:
- Trauma: Der Film zeigt auf eindringliche Weise die psychologischen Auswirkungen des Krieges auf die Überlebenden. Iya und Masha sind beide von traumatischen Erlebnissen gezeichnet, die ihr Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen. Sie kämpfen mit Flashbacks, Albträumen, Angstzuständen und Depressionen.
- Verlust: Der Film thematisiert den Verlust von geliebten Menschen, von Unschuld, von Hoffnung und von Zukunftsperspektiven. Die Figuren haben viel verloren und versuchen, mit ihrer Trauer und ihrem Schmerz umzugehen.
- Schuld: Schuldgefühle spielen eine zentrale Rolle in der Beziehung zwischen Iya und Masha. Beide fühlen sich für die Ereignisse der Vergangenheit verantwortlich und kämpfen mit dem Gewicht ihrer Schuld.
- Die Suche nach Sinn: In einer Welt, die von Krieg und Zerstörung gezeichnet ist, suchen die Figuren nach einem Sinn in ihrem Leben. Sie klammern sich an die Hoffnung, an die Liebe, an die Freundschaft und an die Möglichkeit einer besseren Zukunft.
- Weiblichkeit und Mutterschaft: Der Film untersucht die Rolle der Frau in der Nachkriegszeit und die Sehnsucht nach Mutterschaft. Iya und Masha suchen auf unterschiedliche Weise nach einem Weg, ihre Weiblichkeit zu definieren und eine Familie zu gründen.
Die Inszenierung: Eine visuelle Poesie der Zerstörung
Kantemir Balagov gelingt es, die Atmosphäre des Nachkriegs-Leningrads auf eindrucksvolle Weise einzufangen. Die Bilder sind düster, trist und von einer Aura der Hoffnungslosigkeit umgeben. Die Kameraführung ist ruhig und beobachtend, sie konzentriert sich auf die Gesichter der Figuren und fängt ihre Emotionen auf subtile Weise ein. Die Farbpalette ist von gedämpften Tönen geprägt, die die Tristesse und die Monotonie des Lebens in den Ruinen widerspiegeln. Dennoch gibt es auch Momente von Schönheit und Hoffnung, die in den roten und grünen Farbtupfern in der Kleidung und in den Interieurs zum Ausdruck kommen.
Besonders hervorzuheben ist die Leistung der beiden Hauptdarstellerinnen Viktoria Miroshnichenko und Vasilisa Perelygina. Sie verkörpern ihre Rollen mit einer Intensität und Authentizität, die unter die Haut geht. Ihre Mimik, ihre Gestik und ihre Körpersprache vermitteln die inneren Konflikte und die emotionalen Turbulenzen ihrer Figuren auf eindringliche Weise.
Warum „Bohnenstange“ sehen? Ein Film, der unter die Haut geht
„Bohnenstange“ ist kein Film, der leicht zu konsumieren ist. Er ist anspruchsvoll, verstörend und emotional aufwühlend. Aber er ist auch ein Film, der einen tief berührt, der zum Nachdenken anregt und der lange nachwirkt. Er ist ein Meisterwerk des russischen Kinos, das sich mit den großen Fragen des Lebens auseinandersetzt: Was bedeutet es, in einer Welt voller Leid und Zerstörung Mensch zu sein? Wie können wir mit Trauma und Verlust umgehen? Und wie können wir in einer dunklen Zeit Hoffnung finden?
Für wen ist dieser Film geeignet?
„Bohnenstange“ ist ein Film für Zuschauer, die sich für anspruchsvolles Kino interessieren, die sich von emotionalen Geschichten berühren lassen und die bereit sind, sich mit schwierigen Themen auseinanderzusetzen. Er ist kein Film für einen leichten Unterhaltungsabend, sondern ein Film, der einen fordert und der einen nachhaltig beeindruckt.
Die Auszeichnungen: Ein Film, der Kritiker und Publikum begeistert
„Bohnenstange“ wurde auf zahlreichen Filmfestivals gezeigt und mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter:
- Preis für die Beste Regie in der Sektion Un Certain Regard bei den Filmfestspielen von Cannes 2019
- Europäischer Filmpreis für die Beste Regie 2019
- Nominierung für den Oscar als Bester Internationaler Film 2020
Technische Daten
Kategorie | Details |
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Originaltitel | Dylda |
Regie | Kantemir Balagov |
Drehbuch | Kantemir Balagov, Alexander Terekhov |
Hauptdarsteller | Viktoria Miroshnichenko, Vasilisa Perelygina |
Genre | Drama, Kriegsfilm |
Produktionsland | Russland |
Erscheinungsjahr | 2019 |
Länge | 137 Minuten |
Fazit: Ein unvergessliches Filmerlebnis
„Bohnenstange“ ist ein Film, der noch lange nach dem Abspann im Gedächtnis bleibt. Er ist ein Meisterwerk des russischen Kinos, das uns in eine Welt der Zerstörung und des Leids entführt, aber uns auch die Kraft der Menschlichkeit, die Hoffnung und die Liebe zeigt. Ein Film, den man gesehen haben muss.