Der Boden unter den Füßen: Ein Film über Kontrolle, Verantwortung und die Suche nach Halt
Marie Kreutzers „Der Boden unter den Füßen“ ist mehr als nur ein Film – er ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit psychischer Erkrankung, den damit verbundenen gesellschaftlichen Stigmata und dem Kampf einer Frau, die versucht, ein Leben in perfekter Ordnung aufrechtzuerhalten, während die Realität um sie herum zu zerbrechen droht. Der Film, der 2019 auf der Berlinale seine Premiere feierte, besticht durch seine intensive Atmosphäre, die außergewöhnliche schauspielerische Leistung von Valerie Pachner und die sensible Regie, die es vermeidet, die Thematik reißerisch darzustellen.
Eine Karrierefrau am Rande des Abgrunds
Lola Wegenstein (Valerie Pachner) ist eine Unternehmensberaterin, wie sie im Buche steht: ehrgeizig, effizient und stets darauf bedacht, die Kontrolle zu behalten. Ihr Leben ist durchstrukturiert, jede Minute durchgeplant. Sie jongliert mit internationalen Projekten, pflegt ein distanziertes Verhältnis zu ihren Kollegen und sucht Entspannung in anonymen sexuellen Begegnungen. Doch hinter dieser Fassade der Perfektion verbirgt sich eine fragile Realität. Lola hat eine Schwester, Conny (Pia Hierzegger), die an Schizophrenie leidet. Um ihre Karriere nicht zu gefährden, hat Lola beschlossen, die Existenz ihrer Schwester vor ihrem Umfeld geheim zu halten.
Diese Entscheidung wird jedoch zunehmend schwieriger, als sich Connys Zustand verschlechtert. Anrufe von der psychiatrischen Klinik, Besuche und die ständige Angst, dass Connys Krankheit ans Licht kommen könnte, belasten Lola zusehends. Die Fassade der Kontrolle beginnt zu bröckeln, und Lola muss sich fragen, wie lange sie diesen Balanceakt noch aufrechterhalten kann.
Das Dilemma der Verantwortung
Der Film wirft wichtige Fragen auf: Welche Verantwortung haben wir für unsere Angehörigen, insbesondere wenn diese psychisch erkrankt sind? Wie viel Opferbereitschaft ist zumutbar? Und wie können wir als Gesellschaft mit Menschen umgehen, die von psychischen Erkrankungen betroffen sind, ohne sie zu stigmatisieren? Lola befindet sich in einem moralischen Dilemma. Einerseits möchte sie ihrer Schwester helfen, andererseits fürchtet sie die negativen Auswirkungen auf ihr eigenes Leben. Diese Zerrissenheit wird von Valerie Pachner auf beeindruckende Weise dargestellt.
Kreutzer verzichtet bewusst auf eine einfache Verurteilung von Lola. Stattdessen zeigt sie die Komplexität der Situation und die unterschiedlichen Perspektiven auf. Connys Krankheit wird nicht sensationalisiert, sondern als ein Teil ihres Lebens dargestellt. Der Film macht deutlich, dass psychische Erkrankungen jeden treffen können und dass es wichtig ist, offen darüber zu sprechen.
Visuelle Metaphern und subtile Andeutungen
Die Inszenierung von „Der Boden unter den Füßen“ ist von einer beklemmenden Atmosphäre geprägt. Die kühlen Farben, die sterile Umgebung der Büros und Hotels, in denen Lola sich aufhält, unterstreichen ihre innere Isolation. Die Kameraarbeit ist ruhig und beobachtend, fängt die kleinen Gesten und Mimiken von Valerie Pachner ein, die mehr sagen als tausend Worte. Auch der Einsatz von Musik ist sparsam, aber wirkungsvoll. Die wenigen musikalischen Einwürfe verstärken die emotionalen Momente und tragen zur Intensität des Films bei.
Kreutzer verwendet auch visuelle Metaphern, um Lolas innere Zerrissenheit zu verdeutlichen. So sieht man Lola beispielsweise immer wieder auf Laufbändern trainieren, ein Symbol für ihre rastlose Suche nach Kontrolle und Stabilität. Die Bilder von Conny in der psychiatrischen Klinik sind von einer bedrückenden Stille geprägt, die die Isolation und Verzweiflung der Patientin verdeutlichen.
Die schauspielerischen Leistungen
Valerie Pachner liefert in „Der Boden unter den Füßen“ eine herausragende Leistung ab. Sie verkörpert Lola mit einer Intensität und Verletzlichkeit, die den Zuschauer tief berührt. Pachner gelingt es, die innere Zerrissenheit ihrer Figur glaubhaft darzustellen, ohne in Klischees zu verfallen. Sie zeigt die Stärke und den Ehrgeiz von Lola, aber auch ihre Ängste und Zweifel. Ihre Darstellung ist nuanciert und authentisch, was den Film zu einem intensiven emotionalen Erlebnis macht.
Auch Pia Hierzegger überzeugt in ihrer Rolle als Conny. Sie spielt die Schizophrenie nicht als reines Symptom, sondern als einen Teil ihrer Persönlichkeit. Ihre Darstellung ist einfühlsam und respektvoll, was dazu beiträgt, dass der Zuschauer eine Verbindung zu Conny aufbauen kann.
Die Nebenrollen sind ebenfalls gut besetzt. Mavie Hörbiger spielt Lolas Kollegin Elise, die eine ambivalente Beziehung zu ihr hat. Michelle Barthel verkörpert eine junge Frau, mit der Lola eine Affäre beginnt. Diese Begegnungen geben Lola kurzzeitig das Gefühl von Nähe und Geborgenheit, können aber ihre innere Leere nicht wirklich füllen.
Themen und Motive
Der Film behandelt eine Reihe von wichtigen Themen und Motiven, die zum Nachdenken anregen:
- Psychische Erkrankung und Stigma: „Der Boden unter den Füßen“ thematisiert die Schwierigkeiten, die Menschen mit psychischen Erkrankungen im Alltag haben, und die Stigmatisierung, der sie oft ausgesetzt sind.
- Verantwortung und Schuld: Der Film wirft die Frage auf, welche Verantwortung wir für unsere Angehörigen haben und wie wir mit Schuldgefühlen umgehen, wenn wir dieser Verantwortung nicht gerecht werden können.
- Kontrolle und Verlust: Lola versucht, ihr Leben durchzustrukturieren und die Kontrolle zu behalten, um ihre innere Unsicherheit zu kompensieren. Doch je mehr sie versucht, die Kontrolle zu erzwingen, desto mehr verliert sie sie.
- Identität und Entfremdung: Lola ist auf der Suche nach ihrer eigenen Identität und fühlt sich gleichzeitig von sich selbst und ihrer Umwelt entfremdet.
- Kommunikation und Isolation: Der Film zeigt die Schwierigkeiten, über psychische Erkrankungen zu sprechen, und die daraus resultierende Isolation der Betroffenen und ihrer Angehörigen.
Die Bedeutung des Titels
Der Titel „Der Boden unter den Füßen“ ist vielschichtig und symbolisch. Er bezieht sich zum einen auf Lolas Beruf als Unternehmensberaterin, die Firmen bei der Restrukturierung und Sanierung unterstützt. Zum anderen verweist er auf Lolas eigenen Kampf, ihren „Boden unter den Füßen“ zu finden und sich in ihrem Leben zu stabilisieren. Der Titel suggeriert auch die Fragilität des menschlichen Daseins und die Möglichkeit, den Halt zu verlieren, wenn die Umstände zu schwierig werden.
Fazit: Ein Film, der lange nachwirkt
„Der Boden unter den Füßen“ ist ein intensiver und berührender Film, der lange nachwirkt. Er ist ein wichtiger Beitrag zur Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen und den damit verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen. Der Film ist nicht nur ein Porträt einer Frau am Rande des Abgrunds, sondern auch eine Reflexion über die Bedingungen des modernen Lebens, in dem Leistungsdruck, Perfektionismus und Entfremdung oft die Oberhand gewinnen.
Marie Kreutzer hat mit „Der Boden unter den Füßen“ einen Film geschaffen, der zum Nachdenken anregt und den Zuschauer nicht unberührt lässt. Die herausragende schauspielerische Leistung von Valerie Pachner, die sensible Regie und die eindringliche Atmosphäre machen den Film zu einem unvergesslichen Kinoerlebnis.
Empfehlungen für Zuschauer
Wenn Sie sich für Filme interessieren, die sich mit psychischen Erkrankungen, gesellschaftlichen Stigmata und zwischenmenschlichen Beziehungen auseinandersetzen, dann ist „Der Boden unter den Füßen“ definitiv eine Empfehlung. Der Film ist jedoch kein leichter Stoff und kann für manche Zuschauer emotional belastend sein. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein, bevor man sich den Film ansieht.
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- „Still Alice“ (2014) – Ein Film über eine Linguistikprofessorin, die an Alzheimer erkrankt.
- „Manchester by the Sea“ (2016) – Ein Film über einen Mann, der mit dem Verlust seiner Familie und seiner eigenen Schuld zu kämpfen hat.
- „Joker“ (2019) – Ein Film über einen psychisch kranken Mann, der in einer von Gewalt und Ungerechtigkeit geprägten Gesellschaft zum Verbrecher wird.
Technische Details
Kategorie | Details |
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Regie | Marie Kreutzer |
Drehbuch | Marie Kreutzer |
Hauptdarsteller | Valerie Pachner, Pia Hierzegger, Mavie Hörbiger |
Produktionsland | Österreich, Deutschland |
Erscheinungsjahr | 2019 |
Länge | 108 Minuten |