Die bleierne Zeit: Ein Meisterwerk über Familie, Ideologie und die Zerrissenheit Deutschlands
„Die bleierne Zeit“, unter der Regie von Margarethe von Trotta, ist weit mehr als nur ein Film; es ist ein bewegendes und tiefgründiges Porträt einer Familie, zerrissen durch die politischen Umwälzungen der 1970er Jahre in Deutschland. Der Film, der 1981 auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, wirft einen schonungslosen Blick auf die komplexen Beziehungen zwischen zwei Schwestern, deren Lebenswege unterschiedlicher kaum sein könnten, und wie die Ideologien ihrer Zeit ihre Leben prägen und zerstören.
Eine Geschichte zweier Schwestern: Juliane und Marianne
Im Zentrum von „Die bleierne Zeit“ stehen Juliane und Marianne, zwei Schwestern, deren Lebensansätze und Überzeugungen unterschiedlicher nicht sein könnten. Juliane, gespielt von Jutta Lampe, ist eine engagierte Journalistin, die ihr Leben der Aufdeckung sozialer Ungerechtigkeiten verschrieben hat. Sie verkörpert den rationalen, analytischen Geist und versucht, durch ihre Arbeit die Welt zu verändern. Marianne, dargestellt von Barbara Sukowa in einer ihrer ikonischsten Rollen, hat sich dem radikalen Untergrund angeschlossen und kämpft mit Gewalt für ihre politischen Ideale. Sie ist eine Terroristin, die im Namen der Revolution bereit ist, über Leichen zu gehen.
Die tiefe Verbundenheit der Schwestern, trotz ihrer gegensätzlichen Lebenswege, bildet das emotionale Herzstück des Films. Juliane versucht verzweifelt, ihre Schwester zu verstehen und zu retten, während Marianne in ihrer ideologischen Verblendung gefangen ist. Ihre Beziehung ist geprägt von Liebe, Loyalität, aber auch von unüberbrückbaren Differenzen und schmerzhaften Konflikten.
Die bleierne Zeit: Ein Spiegel der deutschen Geschichte
Der Titel des Films, „Die bleierne Zeit“, bezieht sich auf die Atmosphäre der Angst und des Misstrauens, die Deutschland in den 1970er Jahren durchdrang. Die Taten der Roten Armee Fraktion (RAF) und die Reaktion des Staates darauf schufen ein Klima der Paranoia und der politischen Polarisierung. Von Trotta fängt diese Atmosphäre auf eindringliche Weise ein und zeigt, wie die politischen Ereignisse das Leben der Menschen, ihre Beziehungen und ihre persönlichen Überzeugungen beeinflussten.
Der Film vermeidet es, eine eindeutige Position zu den politischen Ereignissen zu beziehen. Stattdessen konzentriert er sich auf die menschlichen Schicksale und die moralischen Dilemmata, die mit dem Terrorismus und der Gewalt einhergehen. „Die bleierne Zeit“ ist keine Rechtfertigung des Terrorismus, aber auch keine einfache Verurteilung. Der Film versucht, die Motive und die Hintergründe der Menschen zu verstehen, die sich in den Untergrund begeben haben, und die verheerenden Auswirkungen ihrer Taten auf ihre Familien und auf die Gesellschaft insgesamt zu zeigen.
Themen und Motive: Familie, Ideologie, Schuld und Vergebung
„Die bleierne Zeit“ ist reich an komplexen Themen und Motiven, die den Zuschauer zum Nachdenken anregen:
- Familie: Die Beziehung zwischen Juliane und Marianne steht im Zentrum des Films. Ihre tiefe Verbundenheit, trotz ihrer unterschiedlichen Lebenswege, zeigt die Stärke familiärer Bindungen, aber auch die Belastung, die durch politische und ideologische Differenzen entstehen kann.
- Ideologie: Der Film untersucht die Macht der Ideologie und wie sie Menschen dazu bringen kann, extreme Entscheidungen zu treffen. Marianne ist ein Beispiel dafür, wie eine radikale Ideologie das Denken verzerren und zu Gewalt führen kann.
- Schuld und Vergebung: Juliane ringt mit der Schuld, ihre Schwester nicht verstanden und gerettet zu haben. Marianne muss sich mit der Schuld ihrer Taten auseinandersetzen. Der Film stellt die Frage, ob Vergebung möglich ist, angesichts der Schwere der Verbrechen.
- Die Rolle der Frau: Margarethe von Trotta, eine der wichtigsten Regisseurinnen des Neuen Deutschen Films, thematisiert in „Die bleierne Zeit“ die Rolle der Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft. Juliane und Marianne sind zwei starke Frauen, die ihren eigenen Weg gehen, aber auch mit den Herausforderungen und Einschränkungen ihrer Zeit konfrontiert sind.
- Die Aufarbeitung der Vergangenheit: Der Film wirft die Frage auf, wie Deutschland mit seiner Vergangenheit umgeht und wie die Traumata des Zweiten Weltkriegs die Nachkriegsgeneration beeinflussen.
Die schauspielerischen Leistungen: Ein Glanzstück
„Die bleierne Zeit“ lebt von den herausragenden schauspielerischen Leistungen von Jutta Lampe und Barbara Sukowa. Lampe verkörpert die rationale und besorgte Juliane mit großer Intensität und Glaubwürdigkeit. Sukowa brilliert als Marianne, die zwischen ideologischer Verblendung und menschlicher Verletzlichkeit hin- und hergerissen ist. Ihre Darstellung ist kraftvoll, emotional und unvergesslich.
Auch die Nebenrollen sind hervorragend besetzt. Rüdiger Vogler spielt Julianes Lebensgefährten Wolfgang, der sie in ihrem Kampf um ihre Schwester unterstützt. Luc Bondy verkörpert den Journalisten Werner, der Juliane bei ihren Recherchen hilft. Die Schauspieler verleihen ihren Figuren Tiefe und Komplexität und tragen dazu bei, die Geschichte auf bewegende Weise zu erzählen.
Die Inszenierung: Ein Meisterwerk des Neuen Deutschen Films
Margarethe von Trotta gelingt es in „Die bleierne Zeit“, eine dichte und atmosphärische Inszenierung zu schaffen. Der Film ist geprägt von langen Einstellungen, realistischen Dialogen und einer zurückhaltenden Kameraführung. Von Trotta verzichtet auf spektakuläre Effekte und konzentriert sich stattdessen auf die psychologische Tiefe der Figuren und die emotionale Wucht der Geschichte.
Die Musik von Nicolas Economou unterstützt die melancholische und bedrückende Stimmung des Films. Die Bilder von Franz Rath sind düster und realistisch und fangen die Atmosphäre der „bleiernen Zeit“ auf eindringliche Weise ein. Die Kostüme und das Bühnenbild tragen dazu bei, die Zeit der 1970er Jahre authentisch wiederzugeben.
Die Rezeption: Ein internationaler Erfolg
„Die bleierne Zeit“ wurde bei seiner Veröffentlichung von Kritikern und Publikum gleichermaßen gefeiert. Der Film gewann zahlreiche Preise, darunter den Goldenen Löwen auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig. Er wurde in viele Länder verkauft und trug dazu bei, den Neuen Deutschen Film international bekannt zu machen.
„Die bleierne Zeit“ gilt heute als eines der wichtigsten Werke des deutschen Kinos. Er ist ein Meisterwerk über Familie, Ideologie und die Zerrissenheit Deutschlands in den 1970er Jahren. Der Film regt zum Nachdenken an und berührt den Zuschauer auf einer tiefen emotionalen Ebene.
Die Bedeutung des Films heute
Auch heute, Jahrzehnte nach seiner Veröffentlichung, ist „Die bleierne Zeit“ von großer Relevanz. Der Film wirft wichtige Fragen nach der Rolle von Ideologie, Gewalt und Terrorismus auf. Er erinnert uns daran, wie wichtig es ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und die Lehren daraus zu ziehen.
„Die bleierne Zeit“ ist ein Plädoyer für Menschlichkeit, Verständnis und Vergebung. Er zeigt, dass selbst in den dunkelsten Zeiten Hoffnung und Versöhnung möglich sind. Der Film ist ein Mahnmal gegen die Verblendung durch Ideologien und ein Aufruf zu mehr Toleranz und Empathie.
Fazit: Ein Film, der lange nachwirkt
„Die bleierne Zeit“ ist ein Film, der lange nachwirkt. Er ist ein Meisterwerk des deutschen Kinos, das den Zuschauer auf einer tiefen emotionalen Ebene berührt. Der Film regt zum Nachdenken an und wirft wichtige Fragen nach der Rolle von Familie, Ideologie und Gewalt auf. „Die bleierne Zeit“ ist ein Muss für jeden, der sich für die deutsche Geschichte, den Neuen Deutschen Film und die großen Fragen der Menschheit interessiert.
Auszeichnungen (Auswahl)
Jahr | Auszeichnung | Kategorie |
---|---|---|
1981 | Goldener Löwe | Bester Film |
1981 | Deutscher Filmpreis | Bestes Drehbuch |
1982 | New York Film Critics Circle Awards | Bester fremdsprachiger Film |