Mystery Train: Eine Reise durch die Nacht von Memphis
Jim Jarmuschs „Mystery Train“ aus dem Jahr 1989 ist mehr als nur ein Film; es ist eine melancholische, humorvolle und zutiefst menschliche Meditation über Fremdheit, Sehnsucht und die magische Anziehungskraft von Memphis, Tennessee. In drei miteinander verwobenen Episoden entfaltet sich ein Mosaik von Geschichten, die alle von der unverwechselbaren Atmosphäre der Stadt, der Musik Elvis Presleys und dem legendären Sun Studio durchdrungen sind. „Mystery Train“ ist ein Film, der seine Zuschauer in eine eigene Welt entführt – eine Welt, in der die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen und das Unerwartete hinter jeder Ecke lauert.
Die erste Episode: „Far From Yokohama“
Die erste Geschichte folgt Mitsuko und Jun, einem jungen japanischen Paar, das eine Pilgerreise in das Land ihrer Rock’n’Roll-Idole unternimmt. Mitsuko, eine enthusiastische Elvis-Verehrerin, und Jun, ein stoischer Johnny-Burnette-Fan, sind voller Vorfreude, aber auch von der Angst, dass ihre Erwartungen enttäuscht werden könnten. Ihre Ankunft in Memphis ist geprägt von kleineren Missverständnissen und kulturellen Differenzen, die jedoch ihre Zuneigung zueinander nicht trüben können. Sie checken im heruntergekommenen Arcade Hotel ein, einem Ort, der von der glorreichen Vergangenheit der Stadt zeugt und in dem die Geister von Elvis und den anderen Pionieren des Rock’n’Roll noch immer zu spüren sind. Während sie die Stadt erkunden, besuchen sie Sun Studio, wo ihre Träume von einer Begegnung mit der Musiklegende fast greifbar werden. Die Episode fängt auf berührende Weise die Begeisterung und die leichte Entfremdung ein, die mit dem Reisen in ein fremdes Land einhergehen. Die subtile Komik, die sich aus den interkulturellen Begegnungen ergibt, wird durch die authentischen Darstellungen von Youki Kudoh und Masatoshi Nagase verstärkt, die ihre Charaktere mit viel Herz und Humor verkörpern.
Die zweite Episode: „A Ghost“
In der zweiten Episode treffen wir Luisa, eine junge italienische Witwe, die unfreiwillig in Memphis gestrandet ist. Auf der Suche nach ihrem Gepäck, das auf dem Weg nach Italien verloren gegangen ist, findet sie sich in der Obhut von Dee Dee, einer aufmerksamen Hotelangestellten, wieder. In ihrer Verzweiflung, ihr Gepäck zurückzubekommen, verbringt Luisa mit Dee Dee die Nacht im Arcade Hotel. Während einer nächtlichen Unterhaltung erzählt Luisa von einer mysteriösen Begegnung mit Elvis, die sie kurz nach dem Tod ihres Mannes hatte und was sie dazu veranlasste, in die USA zu reisen. Die Episode „A Ghost“ ist von einer träumerischen Atmosphäre durchzogen und spielt mit der Idee des Übersinnlichen und der Macht der Erinnerung. Nicoletta Braschi, bekannt für ihre Rollen in den Filmen ihres Ehemanns Roberto Benigni, verkörpert Luisa mit einer Mischung aus Verletzlichkeit und Stärke. Ihre Performance verleiht der Episode eine besondere Tiefe und macht sie zu einem der emotionalsten Momente des Films.
Die dritte Episode: „Lost in Space“
Die dritte und vielleicht unberechenbarste Episode folgt Charlie, einem frustrierten Friseur, der von seinem Schwager und seinem besten Freund, beide arbeitslos, begleitet wird. Nach einem unglücklichen Vorfall, der mit Alkohol und einem zufälligen Schusswaffengebrauch zu tun hat, flieht die Gruppe vor der Polizei. Die Episode ist von einer dunklen, fast surreale Komik geprägt und zeigt die Schattenseiten von Memphis, abseits der glitzernden Fassade der Musikindustrie. Screamin‘ Jay Hawkins, der sich selbst spielt, hat einen unvergesslichen Auftritt als Nachtportier des Arcade Hotels, der die drei Flüchtigen widerwillig aufnimmt. Die Episode „Lost in Space“ ist die chaotischste und gewalttätigste des Films, aber auch die, die am deutlichsten Jarmuschs Hang zum Absurden und zu ungewöhnlichen Charakteren zeigt. Joe Strummer, bekannt als Frontmann der Punkband The Clash, spielt Charlie mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung. Seine Performance verleiht der Episode eine rohe und authentische Note.
Die Verbindung durch Musik und Raum
Was „Mystery Train“ zu einem so besonderen Filmerlebnis macht, ist die Art und Weise, wie Jarmusch die drei Episoden miteinander verbindet. Obwohl die Charaktere sich nicht direkt begegnen, teilen sie alle den gleichen Raum: das Arcade Hotel, die Straßen von Memphis und die Musik von Elvis Presley. Das Geräusch eines Zuges, der in der Nacht vorbeifährt, dient als wiederkehrendes Motiv und verbindet die einzelnen Geschichten miteinander. Die Musik spielt eine zentrale Rolle im Film und unterstreicht die Atmosphäre jeder Episode. Von den melancholischen Klängen von Elvis‘ „Blue Moon“ bis zu den energiegeladenen Rhythmen von Carl Perkins‘ „Blue Suede Shoes“ – die Musik ist mehr als nur ein Soundtrack; sie ist ein integraler Bestandteil der Erzählung.
Visuelle Poesie und lakonischer Humor
Jarmuschs Regiestil ist geprägt von einer minimalistischen Ästhetik und einem lakonischen Humor. Er verzichtet auf spektakuläre Effekte und rasante Schnitte und konzentriert sich stattdessen auf die subtilen Nuancen des menschlichen Verhaltens. Die Dialoge sind knapp und präzise, aber dennoch voller Bedeutung. Die Kameraführung ist ruhig und beobachtend, wodurch der Zuschauer die Möglichkeit hat, in die Welt der Charaktere einzutauchen. Die Schwarz-Weiß-Fotografie von Robby Müller verleiht dem Film eine zeitlose Qualität und unterstreicht die melancholische Atmosphäre von Memphis. Jarmusch fängt die Schönheit des Verfalls und die Poesie des Alltäglichen ein. Er zeigt uns eine Stadt, die von ihrer Vergangenheit gezeichnet ist, aber dennoch voller Leben und Hoffnung ist.
Ein Film über Fremdheit und Sehnsucht
„Mystery Train“ ist nicht nur eine Hommage an Memphis und die Musik des Rock’n’Roll; es ist auch eine tiefgründige Auseinandersetzung mit den Themen Fremdheit, Sehnsucht und der Suche nach Identität. Die Charaktere in den drei Episoden sind alle auf der Suche nach etwas: nach Liebe, nach Anerkennung, nach einem Stück ihrer Vergangenheit. Sie sind Fremde in einer fremden Stadt, die sich nach einem Gefühl der Zugehörigkeit sehnen. Jarmusch zeigt uns, dass die Suche nach diesem Gefühl oft mit Enttäuschungen und Verlusten verbunden ist, aber dass sie uns letztendlich auch die Möglichkeit gibt, uns selbst besser kennenzulernen. Die emotionale Tiefe des Films liegt in der Ehrlichkeit, mit der er die Verletzlichkeit und die Sehnsüchte seiner Charaktere darstellt. Er zeigt uns, dass wir alle auf der Suche nach etwas sind, und dass wir in dieser Suche nicht allein sind.
Die Bedeutung von Memphis
Memphis ist mehr als nur ein Schauplatz in „Mystery Train“; es ist ein Charakter für sich. Die Stadt ist durchdrungen von der Geschichte des Blues, des Rock’n’Roll und der Bürgerrechtsbewegung. Jarmusch fängt die Atmosphäre von Memphis auf authentische Weise ein, von den heruntergekommenen Hotels bis zu den pulsierenden Musikclubs. Er zeigt uns die Schönheit des Verfalls und die Poesie des Alltäglichen. Memphis ist ein Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen, ein Ort, an dem die Geister der Musiklegenden noch immer lebendig sind. Die Stadt dient als Spiegel für die inneren Zustände der Charaktere. Ihre Sehnsüchte, ihre Ängste und ihre Hoffnungen werden durch die Atmosphäre von Memphis verstärkt.
Ein zeitloses Meisterwerk
„Mystery Train“ ist ein Film, der auch nach über 30 Jahren nichts von seiner Relevanz und seinem Charme verloren hat. Er ist ein zeitloses Meisterwerk, das die Zuschauer immer wieder aufs Neue berührt. Jarmuschs einzigartiger Regiestil, die authentischen Darstellungen der Schauspieler und die melancholische Atmosphäre von Memphis machen „Mystery Train“ zu einem unvergesslichen Filmerlebnis. Der Film ist eine Hommage an die Musik, an die Freundschaft und an die Schönheit des Unerwarteten. Er erinnert uns daran, dass wir alle auf einer Reise sind, und dass wir in dieser Reise nicht allein sind. „Mystery Train“ ist ein Film, der zum Nachdenken anregt, der uns zum Lachen bringt und der uns tief im Herzen berührt.
Besetzung im Überblick
Schauspieler | Rolle |
---|---|
Masatoshi Nagase | Jun |
Youki Kudoh | Mitsuko |
Nicoletta Braschi | Luisa |
Elizabeth Bracco | Dee Dee |
Joe Strummer | Elvis (Johnny) |
Rick Aviles | Willie |
Steve Buscemi | Charlie |
Screamin‘ Jay Hawkins | Nachtportier |
Auszeichnungen (Auswahl)
- Independent Spirit Awards: Bester Kameramann (Robby Müller)
- Cannes Film Festival: Nominierung für die Goldene Palme