Tausendschönchen (Sedmikrásky): Ein surrealistisches Fest der Anarchie und Rebellion
„Tausendschönchen“, im Original „Sedmikrásky“, ist weit mehr als nur ein Film. Es ist ein radikales, farbenprächtiges und zutiefst verstörendes Statement über Konformität, Konsum und die Absurdität des Krieges. Gedreht 1966 von der tschechischen Regisseurin Věra Chytilová, inmitten der tschechoslowakischen Neuen Welle, ist dieser Film ein unvergessliches Filmerlebnis, das Konventionen sprengt und den Zuschauer in eine Welt katapultiert, in der Logik und Realität keine Rolle spielen.
Die Geschichte: Zwei Marien, doppeltes Unheil
Im Zentrum von „Tausendschönchen“ stehen zwei junge Frauen, beide namens Marie (gespielt von Jitka Cerhová und Ivana Karbanová). Zu Beginn des Films kommen sie zu dem Schluss, dass, da die Welt verdorben ist, auch sie verdorben sein sollten. Dieser nihilistische Entschluss ist der Startschuss für eine Reihe von surrealen und destruktiven Eskapaden. Sie betrügen ältere Männer in Restaurants, zerschneiden und essen alles, was ihnen in die Hände fällt, und veranstalten ein allgemeines Chaos, ohne Rücksicht auf Konsequenzen. Ihre Taten sind nicht von tiefer Boshaftigkeit getrieben, sondern vielmehr von einer spielerischen Rebellion gegen die Oberflächlichkeit und Heuchelei der Gesellschaft.
Die beiden Marien sind Spiegelbilder ihrer Zeit, die geprägt war von einer Generation, die sich nach Freiheit und Individualität sehnte, aber von einem repressiven Regime unterdrückt wurde. Ihre Eskapaden sind ein Ventil für diese Frustration und eine satirische Auseinandersetzung mit den Werten, die ihnen aufgezwungen werden.
Visuelle Opulenz und experimentelle Techniken
„Tausendschönchen“ ist ein Fest für die Augen. Chytilová setzt eine Vielzahl von experimentellen filmischen Techniken ein, um die surreale und chaotische Welt der Marien zu erschaffen. Dazu gehören:
- Farbfilter: Die Verwendung von Farbfiltern verstärkt die surreale Atmosphäre und unterstreicht die emotionalen Zustände der Protagonistinnen.
- Collagen: Collagenartige Montagen aus verschiedenen Materialien und Bildern verstärken den Eindruck einer fragmentierten und desorientierten Welt.
- Zeitraffer und Zeitlupe: Diese Techniken verzerren die Realität und betonen die subjektive Wahrnehmung der Marien.
- Unkonventionelle Kameraeinstellungen: Schräge Winkel und ungewöhnliche Perspektiven tragen zur Verfremdung bei und brechen mit traditionellen Sehgewohnheiten.
Diese visuellen Elemente sind nicht nur dekorativ, sondern integraler Bestandteil der Filmerzählung. Sie spiegeln die innere Zerrissenheit der Marien wider und verstärken die Botschaft des Films über die Absurdität der Welt.
Die Symbolik: Mehr als nur Chaos
Hinter der scheinbaren Ziellosigkeit und dem Chaos von „Tausendschönchen“ verbirgt sich eine tiefe Symbolik. Viele Elemente des Films sind mit Bedeutung aufgeladen und laden zur Interpretation ein:
- Das Zerschneiden: Das Zerschneiden von Lebensmitteln, Kleidung und anderen Gegenständen symbolisiert die Zerstörung von Konventionen und die Ablehnung gesellschaftlicher Normen.
- Die Uhren: Uhren tauchen immer wieder im Film auf und symbolisieren die Vergänglichkeit und die Sinnlosigkeit der Zeit in einer verdorbenen Welt.
- Das Wasser: Wasser steht für Reinigung und Erneuerung, aber auch für Zerstörung. Die Marien spielen oft mit Wasser und inszenieren darin surreale Szenen.
- Die Puppen: Die beiden Marien werden oft mit Puppen verglichen, was ihre Manipulierbarkeit und ihren Verlust der Individualität betont.
Die Symbolik in „Tausendschönchen“ ist nicht immer eindeutig, sondern offen für Interpretationen. Dies macht den Film zu einem anregenden und herausfordernden Seherlebnis.
Die Rolle der Frau: Rebellion gegen das Patriarchat
„Tausendschönchen“ ist nicht nur eine Kritik an Konsum und Krieg, sondern auch ein Kommentar zur Rolle der Frau in der Gesellschaft. Die Marien rebellieren gegen die Erwartungen, die an sie gestellt werden, und weigern sich, sich den patriarchalen Strukturen unterzuordnen. Sie sind selbstbewusst, unabhängig und nehmen ihr Leben selbst in die Hand, auch wenn ihre Handlungen destruktiv sind.
Der Film stellt traditionelle Geschlechterrollen in Frage und plädiert für die Freiheit und Selbstbestimmung der Frau. Die Marien sind keine passiven Opfer, sondern aktive Akteure, die sich gegen die Unterdrückung wehren.
Die Rezeption: Kontroverse und Anerkennung
„Tausendschönchen“ war von Anfang an ein kontroverser Film. In der Tschechoslowakei wurde er kurz nach seiner Veröffentlichung verboten, da er als provokativ und staatsfeindlich galt. Die surrealen Bilder und die anarchistische Botschaft stießen auf Ablehnung bei den Behörden.
Trotz des Verbots fand der Film im Westen Anerkennung und wurde zu einem Kultklassiker. Er wurde für seine innovative Bildsprache, seine subversive Botschaft und seine feministische Perspektive gelobt. Heute gilt „Tausendschönchen“ als einer der wichtigsten Filme der tschechoslowakischen Neuen Welle und als ein Meisterwerk des surrealistischen Kinos.
Die Bedeutung für die Filmgeschichte
„Tausendschönchen“ hat die Filmgeschichte nachhaltig beeinflusst. Er hat neue Wege der filmischen Erzählung aufgezeigt und die Grenzen des Mediums erweitert. Viele Regisseure wurden von Chytilovás experimentellem Stil inspiriert und haben Elemente davon in ihre eigenen Werke übernommen.
Der Film hat auch dazu beigetragen, das Bild der Frau im Film zu verändern. Die Marien sind komplexe und widersprüchliche Figuren, die sich den traditionellen Stereotypen entziehen. Sie sind ein Beispiel für die Vielfalt und die Stärke der weiblichen Perspektive im Kino.
Fazit: Ein zeitloses Meisterwerk
„Tausendschönchen“ ist ein Film, der noch lange nachwirkt. Er ist nicht leicht zu verdauen, aber er regt zum Nachdenken an und fordert den Zuschauer heraus, seine eigenen Überzeugungen zu hinterfragen. Mit seiner innovativen Bildsprache, seiner subversive Botschaft und seiner feministischen Perspektive ist er ein zeitloses Meisterwerk, das auch heute noch relevant ist.
Wer sich auf dieses surreale und anarchistische Filmerlebnis einlässt, wird mit einem unvergesslichen Seherlebnis belohnt, das die Grenzen des Kinos neu definiert.
Besetzung
Schauspieler | Rolle |
---|---|
Jitka Cerhová | Marie I |
Ivana Karbanová | Marie II |
Jan Klusák | Mann im Anzug |
Julius Albert | Mann im Restaurant |
Hinter den Kulissen
Regie: Věra Chytilová
Drehbuch: Věra Chytilová, Ester Krumbachová, Pavel Juráček
Kamera: Jaroslav Kučera
Musik: Jiří Šust