Under the Tree – Ein Nachbarschaftskrieg unter isländischer Sonne
„Under the Tree“ (Originaltitel: „Undir trénu“) ist ein isländischer Film aus dem Jahr 2017, der auf ebenso subtile wie eindringliche Weise die Eskalation eines Nachbarschaftsstreits beleuchtet. Regisseur Hafsteinn Gunnar Sigurðsson, bekannt für seinen feinen Humor und seine Beobachtungsgabe, entwirft ein komplexes und beklemmendes Bild von zwischenmenschlichen Beziehungen, Vorurteilen und den dunklen Abgründen, die in der vermeintlichen Idylle einer Vorstadtsiedlung lauern können.
Die Ausgangslage: Ein Baum und seine Schatten
Der Film beginnt mit einem scheinbar harmlosen Konflikt: In einer ruhigen Wohngegend in Island beschwert sich ein Ehepaar, Agnes und Einar, über den Schatten, den der große, alte Baum im Garten ihrer Nachbarn Atli und Inga auf ihre Terrasse wirft. Der Schatten stört ihr Sonnenbad, verdunkelt ihr Leben und wird zum Symbol für eine wachsende Unzufriedenheit.
Atli, der gerade von seiner Frau Inga aus dem gemeinsamen Haus geworfen wurde, weil er eine Affäre hatte, findet in dem Baum einen gewissen Trost. Er weigert sich, ihn zu fällen, was den Konflikt mit Agnes und Einar weiter anheizt. Der Streit eskaliert zusehends und nimmt immer absurdere Formen an, von passiven Aggressionen bis hin zu offenen Drohungen.
Ein Mikrokosmos der menschlichen Natur
„Under the Tree“ ist jedoch weit mehr als nur eine Geschichte über einen Nachbarschaftsstreit. Der Film dient als Spiegelbild der menschlichen Natur, in dem Themen wie Eifersucht, Misstrauen, Vorurteile und die Unfähigkeit zur Kommunikation auf brillante Weise verhandelt werden. Die Charaktere sind vielschichtig und authentisch gezeichnet, und ihre Handlungen sind nachvollziehbar, auch wenn sie moralisch fragwürdig sind.
Agnes und Einar, das Paar, das sich über den Schatten des Baumes beschwert, wirken zunächst wie die Opfer. Doch im Laufe der Geschichte werden ihre dunklen Seiten offenbart. Ihre Frustration über ihr eigenes Leben projizieren sie auf den Baum und ihre Nachbarn, und sie sind bereit, zu immer drastischeren Mitteln zu greifen, um ihren Willen durchzusetzen.
Atli, der von seiner Frau verlassene Ehemann, wird zum unfreiwilligen Opfer der Situation. Er versucht, die Situation zu deeskalieren, doch seine Bemühungen scheitern an der Sturheit seiner Nachbarn und der eigenen Verletztheit. Inga, seine Frau, ist hin- und hergerissen zwischen Wut, Enttäuschung und dem Wunsch nach Versöhnung. Ihre inneren Konflikte spiegeln die Zerrissenheit der gesamten Nachbarschaft wider.
Die Eskalation der Gewalt
Der Konflikt zwischen den Nachbarn eskaliert immer weiter und mündet schließlich in einer Spirale der Gewalt. Sachbeschädigung, anonyme Briefe und gegenseitige Beschuldigungen sind nur der Anfang. Die Situation spitzt sich zu, als jemand den Hund von Atli und Inga vergiftet. Der Verdacht fällt sofort auf Agnes und Einar, und die Lage droht endgültig außer Kontrolle zu geraten.
Der Film verzichtet dabei auf eine moralische Wertung. Er zeigt die Abgründe der menschlichen Natur, ohne zu urteilen. Die Zuschauer werden dazu angeregt, sich selbst zu fragen, wie sie in einer solchen Situation handeln würden und welche Verantwortung jeder Einzelne für das Klima in seiner Umgebung trägt.
Die Rolle des Baumes
Der Baum, um den sich der Konflikt dreht, ist mehr als nur ein Gegenstand. Er wird zum Symbol für das, was die Nachbarn trennt und verbindet. Er steht für die Natur, die im Kontrast zur künstlichen Ordnung der Vorstadtsiedlung steht. Er erinnert an die Vergangenheit, die im Schatten der Gegenwart liegt. Und er wird zum Spiegelbild der menschlichen Psyche, in der Licht und Schatten, Schönheit und Hässlichkeit untrennbar miteinander verbunden sind.
Humor und Tragik
Trotz der düsteren Thematik gelingt es Regisseur Hafsteinn Gunnar Sigurðsson, immer wieder humorvolle Momente in die Geschichte einzubauen. Der isländische Humor, der oft von einer gewissen Skurrilität geprägt ist, lockert die beklemmende Atmosphäre auf und ermöglicht es dem Zuschauer, die Situation aus einer distanzierten Perspektive zu betrachten. Gleichzeitig betont der Humor die Tragik der Situation und die Absurdität des menschlichen Verhaltens.
Die visuelle Gestaltung
„Under the Tree“ besticht durch seine eindringliche visuelle Gestaltung. Die kargen Landschaften Islands, die klaren Linien der modernen Architektur und die subtile Farbpalette unterstreichen die Atmosphäre der Isolation und Entfremdung. Die Kameraführung ist ruhig und beobachtend, und sie fängt die Nuancen der menschlichen Interaktion auf subtile Weise ein.
Die Bildkompositionen sind oft symbolisch und tragen zur Vertiefung der Thematik bei. Der Schatten des Baumes, der sich über die Terrasse der Nachbarn legt, wird zum visuellen Leitmotiv des Films und symbolisiert die dunklen Seiten der menschlichen Natur.
Die schauspielerischen Leistungen
Die Schauspieler in „Under the Tree“ liefern durchweg herausragende Leistungen. Sie verkörpern ihre Charaktere mit großer Authentizität und verleihen ihnen Tiefe und Komplexität. Steinunn Ólína Þorsteinsdóttir als Agnes und Edda Björgvinsdóttir als Inga brillieren in ihren Rollen als zerrissene und von ihren eigenen Dämonen geplagte Frauen.
Sigurður Sigurjónsson als Einar und Þorsteinn Bachmann als Atli überzeugen durch ihre nuancierte Darstellung der männlichen Protagonisten, die zwischen Stolz, Verletzlichkeit und dem Wunsch nach Versöhnung hin- und hergerissen sind.
Themen und Interpretationen
„Under the Tree“ ist ein Film, der viele Fragen aufwirft und zu verschiedenen Interpretationen einlädt. Er thematisiert die Grenzen der Toleranz, die Bedeutung von Kommunikation und die Verantwortung des Einzelnen für das soziale Klima in seiner Umgebung. Der Film zeigt, wie schnell aus einem scheinbar harmlosen Konflikt eine Spirale der Gewalt entstehen kann und wie schwer es ist, diese zu stoppen.
Einige Kritiker sehen in „Under the Tree“ eine Parabel auf die isländische Gesellschaft, die sich in den letzten Jahren stark verändert hat. Die moderne Architektur, die in dem Film zu sehen ist, steht im Kontrast zu den traditionellen Werten und Lebensweisen Islands. Der Konflikt zwischen den Nachbarn könnte als Ausdruck der Spannungen zwischen Alt und Neu, Tradition und Moderne interpretiert werden.
Andere Interpretationen sehen in dem Film eine Auseinandersetzung mit den Themen Eifersucht, Misstrauen und der Unfähigkeit zur Vergebung. Die Charaktere sind gefangen in ihren eigenen Vorurteilen und Unzulänglichkeiten, und sie sind nicht in der Lage, sich aus diesem Teufelskreis zu befreien.
Fazit: Ein beklemmendes Meisterwerk
„Under the Tree“ ist ein beklemmender und verstörender Film, der noch lange nach dem Abspann nachwirkt. Er ist ein Meisterwerk des isländischen Kinos, das auf subtile und eindringliche Weise die dunklen Seiten der menschlichen Natur beleuchtet. Der Film ist ein Muss für alle, die sich für anspruchsvolles und gesellschaftskritisches Kino interessieren.
Auszeichnungen
„Under the Tree“ wurde auf zahlreichen internationalen Filmfestivals gezeigt und ausgezeichnet, darunter:
- Nominierung für den Nordischen Filmpreis 2017
- Gewinner des Goldenen Schwans beim Kopenhagen International Film Festival 2017
- Gewinner des Publikumspreises beim Tromsø International Film Festival 2018
Details zum Film
Titel | Under the Tree (Undir trénu) |
---|---|
Regie | Hafsteinn Gunnar Sigurðsson |
Drehbuch | Hafsteinn Gunnar Sigurðsson, Huldar Breiðfjörð |
Schauspieler | Steinunn Ólína Þorsteinsdóttir, Edda Björgvinsdóttir, Sigurður Sigurjónsson, Þorsteinn Bachmann |
Genre | Drama, Komödie |
Produktionsland | Island, Dänemark, Polen, Deutschland |
Erscheinungsjahr | 2017 |
Länge | 89 Minuten |
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