Alfred Hitchcock: Zwei Meisterwerke des frühen Kinos – „Der Mieter“ & „Leichtlebig“
Alfred Hitchcock, ein Name, der synonym steht für Spannung, Suspense und cineastische Brillanz. Doch bevor er Hollywood eroberte und die Welt mit Klassikern wie „Psycho“ und „Die Vögel“ in Atem hielt, formte er in seinen frühen britischen Filmen bereits sein unverkennbares Talent. Zwei dieser frühen Werke, „Der Mieter“ (The Lodger: A Story of the London Fog, 1927) und „Leichtlebig“ (Easy Virtue, 1928), bieten einen faszinierenden Einblick in die Genese eines Meisters und zeigen, wie Hitchcock schon früh mit Themen und Stilmitteln experimentierte, die sein gesamtes Œuvre prägen sollten.
„Der Mieter“: Ein düsteres Psychogramm Londons im Griff der Angst
„Der Mieter“, basierend auf dem Roman von Marie Belloc Lowndes, markiert einen Wendepunkt in Hitchcocks Karriere. Er selbst bezeichnete ihn als seinen ersten „echten“ Hitchcock-Film, und das aus gutem Grund. Der Film verlässt die einfachen Genremuster früherer Arbeiten und taucht ein in die düstere Atmosphäre eines Londons, das von einem Serienmörder, der als „Avenger“ bekannt ist, terrorisiert wird. Seine Opfer: blonde Frauen.
Inmitten dieser angespannten Atmosphäre taucht ein geheimnisvoller Fremder, der Mieter (Ivor Novello), im Haus eines Ehepaares auf. Sein zurückhaltendes Auftreten, seine seltsamen Angewohnheiten und seine unheimliche Faszination für die Mordfälle wecken sofort Misstrauen, insbesondere bei Daisy (June Tripp), der blonden Tochter des Hauses, die als Model arbeitet. Sie fühlt sich einerseits zu dem attraktiven Mieter hingezogen, andererseits nagt der Verdacht an ihr, dass er der gesuchte Mörder sein könnte.
Hitchcock meistert es in „Der Mieter“ auf beeindruckende Weise, die beklemmende Atmosphäre Londons einzufangen. Der Nebel, der die Straßen verhüllt, wird zum Spiegelbild der Unsicherheit und des Misstrauens, das die Stadt erfasst hat. Durch innovative Kameratechnik und suggestive Bildsprache erzeugt er eine psychologische Spannung, die den Zuschauer bis zum Schluss in Atem hält. Man sieht nicht, was wirklich vor sich geht, aber man spürt es.
Novellos Darstellung des Mieters ist vielschichtig und ambivalent. Er verkörpert sowohl die Anziehungskraft des Unbekannten als auch die Bedrohung des Fremden. Hitchcock spielt gekonnt mit der Unsicherheit des Zuschauers, lässt ihn im Unklaren über die wahre Identität des Mieters und erzeugt so einen konstanten Zustand der Suspense. Ist er ein Opfer der Umstände? Ein Mann mit dunklen Geheimnissen? Oder tatsächlich der „Avenger“?
Hitchcocks Cameo-Auftritt ist ein frühes Beispiel für sein Markenzeichen. Er ist als Mann im Hintergrund zu sehen, der eine Unterschrift auf einer Liste tätigt. Die wenigen Sekunden, die er im Bild ist, sind eine frühe Form der Selbstinszenierung, die Hitchcock in seiner Karriere perfektionieren sollte.
Die Auflösung des Films ist nicht ganz eindeutig und bietet Raum für Interpretationen. Ist der Mieter tatsächlich unschuldig, wie angedeutet wird? Oder entgeht er am Ende nur der Gerechtigkeit? Diese Ambivalenz trägt zur anhaltenden Faszination des Films bei und macht ihn zu einem zeitlosen Meisterwerk des frühen Kinos.
„Leichtlebig“: Gesellschaftliche Konventionen und die Last der Vergangenheit
Ein Jahr nach „Der Mieter“ wagte sich Hitchcock mit „Leichtlebig“ an eine Adaption des Bühnenstücks von Noël Coward. Dieser Film, der eine deutliche Abkehr vom düsteren Thriller-Genre darstellt, ist eine scharfsinnige Gesellschaftssatire, die die Scheinheiligkeit und die engen Moralvorstellungen der britischen Upper Class aufs Korn nimmt.
Larita Filton (Isabel Jeans), eine glamouröse und unabhängige Frau, kehrt nach einer skandalösen Scheidung aus dem Ausland nach England zurück. Sie versucht, ein neues Leben zu beginnen und heiratet den jungen und naiven John Whittaker (Robin Irvine). Doch ihre Vergangenheit holt sie schnell ein. Die Familie Whittakers, allen voran Johns Mutter (Violet Farebrother), ist von Laritas „leichter“ Vergangenheit schockiert und setzt alles daran, die Ehe zu sabotieren.
Hitchcock inszeniert „Leichtlebig“ als ein Kammerspiel, das sich hauptsächlich in den engen Räumen des Whittaker-Anwesens abspielt. Diese klaustrophobische Atmosphäre spiegelt die Enge und die erstickenden Konventionen der Gesellschaft wider, denen Larita ausgesetzt ist. Die Familie Whittaker, die auf den ersten Blick tadellos und respektabel erscheint, entpuppt sich als heuchlerischer und intoleranter Haufen, der Larita das Leben zur Hölle macht.
Isabel Jeans brilliert in der Rolle der Larita. Sie verkörpert eine Frau, die sich nicht den gesellschaftlichen Normen beugen will und für ihre Unabhängigkeit kämpft. Ihre Figur ist ambivalent und komplex. Einerseits ist sie selbstbewusst und schlagfertig, andererseits trägt sie die Last ihrer Vergangenheit mit sich herum und leidet unter der Ablehnung der Gesellschaft.
Die Ironie und der subtile Humor, die bereits in „Der Mieter“ anklingen, werden in „Leichtlebig“ noch deutlicher. Hitchcock nutzt komödiantische Elemente, um die Absurdität der gesellschaftlichen Konventionen zu entlarven und die Doppelmoral der Upper Class anzuprangern. Er zeigt, wie schnell eine Frau, die von der Norm abweicht, stigmatisiert und ausgegrenzt wird.
„Leichtlebig“ ist ein Film, der zum Nachdenken anregt. Er wirft Fragen nach Schuld, Vergebung und der Freiheit des Individuums auf. Hitchcock zeigt, dass die Vergangenheit einen Menschen einholen kann, aber dass es auch möglich ist, sich von ihr zu befreien und seinen eigenen Weg zu gehen.
Vergleich und Kontraste: Zwei Facetten des frühen Hitchcock
Obwohl „Der Mieter“ und „Leichtlebig“ auf den ersten Blick sehr unterschiedlich erscheinen, zeigen sie doch einige Gemeinsamkeiten und interessante Kontraste, die Aufschluss über die Entwicklung von Hitchcocks Stil und seinen thematischen Interessen geben:
Aspekt | Der Mieter | Leichtlebig |
---|---|---|
Genre | Thriller, Suspense | Gesellschaftssatire, Drama |
Atmosphäre | Düster, beklemmend, nebelverhangen | Klaustrophobisch, ironisch, elegant |
Themen | Angst, Misstrauen, Identität, Schuld und Unschuld | Gesellschaftliche Konventionen, Scheinheiligkeit, Freiheit, Vergebung |
Hauptfigur | Geheimnisvoller Fremder, dessen Identität im Unklaren bleibt | Unabhängige Frau, die gegen die Gesellschaft kämpft |
Stil | Expressionistische Bildsprache, innovative Kameratechnik | Kammerspielartige Inszenierung, subtiler Humor |
Beide Filme zeigen Hitchcocks Fähigkeit, mit unterschiedlichen Genres und Stilen zu experimentieren. „Der Mieter“ etabliert ihn als Meister der Suspense, während „Leichtlebig“ seine scharfsinnige Beobachtungsgabe und seinen Sinn für Ironie offenbart. Beide Filme thematisieren die dunklen Seiten der menschlichen Natur und die Abgründe der Gesellschaft. In „Der Mieter“ ist es die Angst vor dem Fremden und die Hysterie, die durch die Mordserie ausgelöst wird, in „Leichtlebig“ ist es die Scheinheiligkeit und die Intoleranz der Upper Class.
Ein wesentlicher Unterschied liegt in der Art der Bedrohung. In „Der Mieter“ ist die Bedrohung konkret und greifbar (der „Avenger“), während sie in „Leichtlebig“ eher subtil und psychologischer Natur ist. Larita wird nicht körperlich bedroht, sondern durch die Verachtung und die Intrigen der Familie Whittaker systematisch ausgegrenzt und zermürbt.
Trotz dieser Unterschiede sind beide Filme durch Hitchcocks unverkennbaren Stil verbunden. Seine Fähigkeit, Spannung zu erzeugen, seine innovative Bildsprache und sein Gespür für subtile psychologische Details sind bereits in diesen frühen Werken deutlich erkennbar.
Die Bedeutung für Hitchcocks Gesamtwerk
„Der Mieter“ und „Leichtlebig“ sind nicht nur für sich genommen bedeutende Filme, sondern auch wichtige Bausteine in der Entwicklung von Alfred Hitchcock als Regisseur. Sie markieren den Beginn seiner Karriere und legen den Grundstein für viele der Themen und Stilmittel, die sein späteres Werk prägen sollten.
Die Suspense, die er in „Der Mieter“ perfektioniert, wird zu einem Markenzeichen seiner Filme. Seine Fähigkeit, den Zuschauer in einen Zustand der Ungewissheit und des Misstrauens zu versetzen, findet sich in Klassikern wie „Das Fenster zum Hof“ und „Vertigo“ wieder. Die Thematisierung von Schuld und Unschuld, die in „Der Mieter“ angeklungen wird, wird in Filmen wie „Ich beichte“ und „Der falsche Mann“ weiter vertieft.
Auch die Gesellschaftskritik, die in „Leichtlebig“ zum Ausdruck kommt, zieht sich durch Hitchcocks gesamtes Werk. Er zeigt immer wieder die dunklen Seiten der menschlichen Natur und die Abgründe der Gesellschaft. In Filmen wie „Berüchtigt“ und „Cocktail für eine Leiche“ entlarvt er die Heuchelei und die Doppelmoral der vermeintlich respektablen Bürger.
„Der Mieter“ und „Leichtlebig“ sind somit nicht nur faszinierende Zeitdokumente, sondern auch wertvolle Einblicke in die Genese eines Meisters. Sie zeigen, wie Alfred Hitchcock bereits in seinen frühen Filmen sein unverkennbares Talent entfaltete und den Grundstein für seine spätere Weltkarriere legte. Diese Filme sind ein Muss für jeden Filmliebhaber und ein Beweis für die zeitlose Kraft des Kinos.
Es sind Filme, die uns daran erinnern, dass die besten Geschichten nicht nur unterhalten, sondern auch zum Nachdenken anregen, uns berühren und uns die Welt mit anderen Augen sehen lassen. Und genau das ist es, was Alfred Hitchcock zu einem der größten Regisseure aller Zeiten macht.