Underground: Eine surreale Reise durch Krieg, Liebe und Propaganda
Emir Kusturicas „Underground“, auch bekannt als „Es war einmal ein Land“, ist ein episches, berauschendes und oft verstörendes Meisterwerk, das die Geschichte Jugoslawiens von den Anfängen des Zweiten Weltkriegs bis zu den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre erzählt. Der Film ist eine wilde Mischung aus Satire, Tragödie, Farce und Melodram, die mit atemberaubender visueller Kraft und einer unbändigen Lebensfreude inszeniert ist. „Underground“ ist nicht einfach nur ein Film, sondern ein rauschhaftes Erlebnis, das den Zuschauer in eine Welt voller Leidenschaft, Verrat und unerbittlicher politischer Manipulation entführt.
Die Geschichte: Zwischen Krieg und Propaganda
Die Geschichte beginnt in Belgrad im Jahr 1941, als die Stadt von deutschen Bombern angegriffen wird. Marko Dren, ein charismatischer Waffenhändler und überzeugter Kommunist, und sein bester Freund Petar „Blacky“ Popara, ein draufgängerischer Elektriker und ebenso glühender Partisan, erleben den Beginn des Krieges hautnah. Marko, der als gewiefter Stratege gilt, versteckt Blacky und eine Gruppe von Menschen in einem unterirdischen Keller, um sie vor den Nazis zu schützen.
Doch Marko nutzt die Situation aus, um die Menschen in dem Keller zu manipulieren. Er überzeugt sie davon, dass der Krieg immer noch tobt, obwohl er längst vorbei ist. Er kontrolliert ihre Lebensrealität, indem er ihnen gefälschte Nachrichten vorspielt und sie für seine eigenen Zwecke ausbeutet. Die Menschen im Untergrund produzieren Waffen, die Marko verkauft und damit ein Vermögen macht. Blacky, der im Untergrund eine Familie gründet, ahnt nichts von dem Betrug seines Freundes.
Jahre vergehen, und die Menschen im Untergrund leben in einer Parallelwelt, in der sie von Marko kontrolliert und manipuliert werden. Sie sind isoliert von der Außenwelt und glauben, dass sie für den Kampf gegen den Feind kämpfen. Marko hingegen genießt ein luxuriöses Leben an der Oberfläche und wird zu einem gefeierten Helden des sozialistischen Jugoslawiens.
Die Situation eskaliert, als Blacky durch einen Zufall aus dem Untergrund entkommt und die Wahrheit über Markos Betrug erfährt. Er schwört Rache und begibt sich auf einen Rachefeldzug, der ihn durch die Wirren der jugoslawischen Geschichte führt – von den goldenen Jahren des Tito-Regimes bis zum blutigen Zerfall des Landes in den 1990er Jahren.
Die Charaktere: Zwischen Helden und Schurken
Die Charaktere in „Underground“ sind vielschichtig und ambivalent. Sie sind weder rein gut noch rein böse, sondern tragen alle Züge von Menschlichkeit, mit all ihren Stärken und Schwächen.
- Marko Dren: Der charismatische Waffenhändler und Propagandist ist die zentrale Figur des Films. Er ist intelligent, gerissen und skrupellos, aber auch charmant und leidenschaftlich. Er glaubt an den Kommunismus, nutzt ihn aber auch als Mittel zum Zweck, um seine eigenen Ambitionen zu verwirklichen.
- Petar „Blacky“ Popara: Der draufgängerische Elektriker und Partisan ist Markos bester Freund und zugleich sein größtes Opfer. Er ist loyal, mutig und idealistisch, aber auch naiv und leichtgläubig. Er wird von Marko verraten und verbringt einen Großteil seines Lebens im Untergrund, ohne die Wahrheit zu kennen.
- Natalija Zovkov: Die begehrte Schauspielerin ist die Geliebte von Marko und Blacky. Sie ist schön, talentiert und verführerisch, aber auch egoistisch und opportunistisch. Sie nutzt ihre Beziehungen zu den beiden Männern, um ihre eigene Karriere voranzutreiben.
Die Beziehungen zwischen den Charakteren sind von Liebe, Freundschaft, Verrat und Eifersucht geprägt. Sie sind miteinander verbunden durch die gemeinsamen Erfahrungen des Krieges und der politischen Umwälzungen in Jugoslawien.
Die Inszenierung: Ein visuelles Feuerwerk
Emir Kusturica ist bekannt für seinen opulenten und expressiven Inszenierungsstil. In „Underground“ erreicht er einen neuen Höhepunkt an visueller Kreativität und Energie. Der Film ist ein Kaleidoskop aus surrealen Bildern, wilden Partys, explosiven Actionszenen und melancholischen Momenten. Die Kamera ist ständig in Bewegung, um die Dynamik und den Wahnsinn der Geschichte einzufangen.
Die Musik von Goran Bregović, einem langjährigen Weggefährten Kusturicas, ist ein integraler Bestandteil des Films. Sie verbindet traditionelle Balkan-Klänge mit modernen Rock- und Pop-Elementen und verstärkt die emotionalen und dramatischen Momente der Geschichte.
Die Ausstattung und die Kostüme sind detailreich und authentisch. Sie tragen dazu bei, die Atmosphäre der verschiedenen Epochen der jugoslawischen Geschichte lebendig werden zu lassen.
Die Themen: Krieg, Propaganda und die Macht der Geschichte
„Underground“ ist ein Film über die zerstörerische Kraft des Krieges, die manipulative Macht der Propaganda und die Bedeutung der Geschichte. Er zeigt, wie politische Ideologien missbraucht werden können, um Menschen zu kontrollieren und zu unterdrücken. Er thematisiert die Frage, wie Geschichte geschrieben und interpretiert wird und wie sie die Identität und das Bewusstsein eines Volkes prägt.
Der Film ist auch eine Allegorie auf die Geschichte Jugoslawiens. Er zeigt, wie das Land durch Kriege, politische Intrigen und ethnische Konflikte zerrissen wurde. Er kritisiert die nationalistischen Ideologien, die zum Zerfall Jugoslawiens geführt haben.
Trotz der düsteren Themen ist „Underground“ kein pessimistischer Film. Er feiert die Lebensfreude, die Widerstandskraft und die Hoffnung der Menschen, die unter widrigsten Umständen versuchen, ihr Leben zu meistern. Er erinnert daran, dass es immer noch Liebe, Freundschaft und Menschlichkeit gibt, auch in den dunkelsten Zeiten.
Kontroversen und Kritik
„Underground“ hat bei seiner Veröffentlichung im Jahr 1995 eine heftige Kontroverse ausgelöst. Der Film wurde von einigen Kritikern als serbische Propaganda diffamiert, die die Verantwortung für die Jugoslawienkriege relativiere. Kusturica wurde vorgeworfen, er verharmlose die serbische Aggression und stelle die serbischen Täter als Opfer dar.
Andere Kritiker verteidigten den Film als ein Meisterwerk, das die komplexen und widersprüchlichen Aspekte der jugoslawischen Geschichte aufzeige. Sie lobten Kusturicas künstlerische Vision und seine Fähigkeit, tragische Ereignisse mit Humor und Ironie zu verbinden.
Die Kontroversen um „Underground“ verdeutlichen, wie schwierig es ist, die Geschichte Jugoslawiens zu erzählen, ohne Partei zu ergreifen. Der Film ist ein Versuch, die Perspektiven verschiedener Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen und die tieferliegenden Ursachen der Konflikte zu ergründen.
Die Bedeutung des Films heute
Auch heute, fast 30 Jahre nach seiner Veröffentlichung, ist „Underground“ ein relevanter und wichtiger Film. Er erinnert uns daran, wie wichtig es ist, die Geschichte zu verstehen und aus ihr zu lernen. Er warnt vor den Gefahren von Propaganda und Manipulation und fordert uns auf, kritisch zu denken und uns nicht von einfachen Antworten blenden zu lassen.
Der Film ist auch ein Denkmal für die Opfer der Jugoslawienkriege. Er erinnert uns an das Leid und die Zerstörung, die durch den Krieg verursacht wurden, und mahnt uns, alles zu tun, um solche Konflikte in Zukunft zu verhindern.
Fazit: Ein unvergessliches Filmerlebnis
„Underground“ ist ein Film, der den Zuschauer nicht unberührt lässt. Er ist ein visuelles Feuerwerk, ein emotionaler Aufruhr und ein intellektuelles Abenteuer. Er ist ein Film, der zum Nachdenken anregt, zum Diskutieren einlädt und lange im Gedächtnis bleibt.
Wer sich auf die surreale und oft verstörende Welt von „Underground“ einlässt, wird mit einem unvergesslichen Filmerlebnis belohnt.
Auszeichnungen (Auswahl)
Jahr | Auszeichnung | Kategorie |
---|---|---|
1995 | Cannes Film Festival | Palme d’Or |
1996 | César Awards | Bester ausländischer Film |