Thomas Harlan – Wandersplitter: Eine filmische Spurensuche nach einem widersprüchlichen Leben
Thomas Harlan war eine ebenso faszinierende wie umstrittene Figur des 20. Jahrhunderts. Als Sohn des NS-Propagandafilmers Veit Harlan trug er eine schwere Bürde, die sein Leben und sein Werk nachhaltig prägte. Die Edition Filmmuseum präsentiert mit „Wandersplitter“ eine umfassende Sammlung von Filmen, Dokumenten und Texten, die sich diesem komplexen Mann annähern und seine Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung beleuchten.
Ein Leben im Schatten des Vaters: Kindheit und Rebellion
Geboren 1929 in Berlin, wuchs Thomas Harlan in einer privilegierten, aber auch von den Schatten des Nationalsozialismus überschatteten Familie auf. Sein Vater, Veit Harlan, inszenierte mit „Jud Süß“ einen der berüchtigtsten antisemitischen Propagandafilme der NS-Zeit. Diese Bürde sollte Thomas Harlan zeitlebens begleiten und ihn zu einer radikalen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zwingen.
Schon in jungen Jahren rebellierte Thomas gegen die autoritäre Erziehung und die verlogene Atmosphäre im Elternhaus. Er verweigerte den Hitlergruß und sympathisierte früh mit linken und antinationalistischen Ideen. Nach dem Krieg engagierte er sich in der französischen Résistance und setzte sich aktiv für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen ein. Diese frühe Politisierung und sein unermüdlicher Kampf gegen jede Form von Unterdrückung und Ungerechtigkeit sollten sein gesamtes Leben bestimmen.
Filmisches Schaffen: Zwischen Dokumentation, Recherche und Intervention
Thomas Harlans filmisches Werk ist geprägt von einer unkonventionellen Herangehensweise und einer tiefen moralischen Ernsthaftigkeit. Er verstand Film nicht als bloße Unterhaltung, sondern als Instrument zur Aufklärung, Anklage und Intervention. Seine Filme sind oft sperrig, unbequem und provozierend, aber immer von dem aufrichtigen Bemühen getragen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Die „Wandersplitter“-Edition umfasst eine Auswahl seiner wichtigsten Filme, die einen Einblick in seine vielfältigen thematischen und formalen Interessen geben:
- „Wandersplitter“ (1988): Der titelgebende Film der Edition ist eine fragmentarische und assoziative Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und der deutschen Vergangenheit. Harlan montiert Archivmaterial, Interviews und persönliche Reflexionen zu einem vielschichtigen Porträt, das die Kontinuitäten des Denkens und Handelns von der NS-Zeit bis in die Gegenwart aufzeigt.
- „Souvenance“ (1991): Dieser Film dokumentiert Harlans Begegnung mit Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. In eindringlichen Gesprächen und Bildern lässt er die Opfer zu Wort kommen und konfrontiert uns mit der unvorstellbaren Grausamkeit des Holocaust. „Souvenance“ ist ein erschütterndes Mahnmal gegen das Vergessen und eine eindringliche Erinnerung an die Notwendigkeit, die Würde des Menschen zu verteidigen.
- „Verratene Liebe“ (1995): Dieser Film beschäftigt sich mit dem Schicksal der Familie des Schriftstellers Wolfgang Borchert, der durch sein Werk „Draußen vor der Tür“ zu einem Sprachrohr der Nachkriegsgeneration wurde. Harlan spürt den Brüchen und Traumata in Borcherts Biografie nach und zeigt, wie die Erfahrungen des Krieges und der NS-Zeit sein Werk und sein Leben prägten.
Die Auseinandersetzung mit der Schuld: Veit Harlan und die Folgen
Ein zentrales Thema in Thomas Harlans Werk ist die Auseinandersetzung mit der Schuld seines Vaters, Veit Harlan. Er verurteilte dessen Mitwirkung an der NS-Propaganda aufs Schärfste und versuchte, die Mechanismen aufzudecken, die zur Entstehung und Verbreitung von Hass und Gewalt führten. Gleichzeitig suchte er aber auch nach einem Weg, mit der eigenen Familiengeschichte umzugehen und einen persönlichen Frieden zu finden. Diese Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit machte ihn zu einer streitbaren und unbequemen Figur, die oft angefeindet und missverstanden wurde.
Die „Wandersplitter“-Edition dokumentiert diese Auseinandersetzung anhand von Interviews, Briefen und Essays, die einen tiefen Einblick in die inneren Konflikte und moralischen Dilemmata Thomas Harlans geben. Sie zeigt, wie er versuchte, die Last der Vergangenheit zu tragen und gleichzeitig eine eigene Identität und ein eigenes moralisches Fundament zu finden.
Mehr als nur Filme: Dokumente und Texte für ein umfassendes Verständnis
Die „Wandersplitter“-Edition geht über die reine Präsentation von Filmen hinaus. Sie enthält eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten und Texten, die dazu beitragen, Thomas Harlans Leben und Werk in einen größeren Kontext einzuordnen und ein umfassenderes Verständnis zu ermöglichen. Dazu gehören:
- Interviews: Gespräche mit Thomas Harlan, in denen er über seine Erfahrungen, seine Überzeugungen und seine Arbeitsweise spricht.
- Essays: Analysen und Interpretationen seiner Filme und Schriften von renommierten Filmwissenschaftlern und Historikern.
- Briefe: Korrespondenzen mit wichtigen Weggefährten und Kontrahenten, die Einblicke in seine persönlichen Beziehungen und intellektuellen Auseinandersetzungen geben.
- Archivmaterial: Fotos, Dokumente und andere Fundstücke, die ein lebendiges Bild von seinem Leben und seiner Zeit zeichnen.
Diese zusätzlichen Materialien machen die „Wandersplitter“-Edition zu einem wertvollen Instrument für alle, die sich intensiver mit Thomas Harlan und der deutschen Vergangenheit auseinandersetzen möchten. Sie ermöglichen es, seine Filme in einem breiteren Kontext zu verstehen und seine Position in der deutschen Nachkriegsgeschichte zu würdigen.
Thomas Harlan – Ein unbequemer Mahner: Seine Bedeutung für die Gegenwart
Thomas Harlan war ein unbequemer Mahner, der sich Zeit seines Lebens gegen jede Form von Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Geschichtsverfälschung einsetzte. Seine Filme und Schriften sind auch heute noch von großer Relevanz, da sie uns daran erinnern, die Vergangenheit nicht zu vergessen und die Mechanismen zu erkennen, die zu Hass und Gewalt führen können.
Die „Wandersplitter“-Edition ist ein wichtiges Zeugnis seines Engagements und ein wertvoller Beitrag zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte. Sie lädt uns ein, uns mit den schwierigen Fragen der Schuld, der Verantwortung und der Versöhnung auseinanderzusetzen und daraus Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Thomas Harlan mag eine umstrittene Figur gewesen sein, aber sein unermüdlicher Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit ist ein Vorbild für uns alle.
Die Edition Filmmuseum: Sorgfältige Restaurierung und Kontextualisierung
Die Edition Filmmuseum hat mit „Wandersplitter“ eine herausragende Edition vorgelegt, die nicht nur die Filme von Thomas Harlan zugänglich macht, sondern auch durch umfangreiches Bonusmaterial und informative Begleittexte einen tiefen Einblick in sein Leben und Werk ermöglicht. Die Filme wurden sorgfältig restauriert und digitalisiert, um eine bestmögliche Bild- und Tonqualität zu gewährleisten. Die Edition ist ein Muss für alle, die sich für die deutsche Geschichte, das Werk von Thomas Harlan und die Rolle des Films als Instrument der Aufklärung interessieren.
Die „Wandersplitter“-Edition ist mehr als nur eine Sammlung von Filmen – sie ist eine Einladung, sich mit einem komplexen und widersprüchlichen Leben auseinanderzusetzen und die Fragen zu stellen, die uns auch heute noch beschäftigen: Wie gehen wir mit der Vergangenheit um? Wie können wir verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt? Und wie können wir eine gerechtere und friedlichere Welt schaffen?
Fazit: Eine unverzichtbare Edition für alle, die mehr wollen als bloße Unterhaltung
Die „Thomas Harlan – Wandersplitter – Edition Filmmuseum“ ist eine anspruchsvolle und lohnende Auseinandersetzung mit einem der wichtigsten und zugleich umstrittensten deutschen Filmemacher. Sie bietet einen tiefen Einblick in sein Leben, sein Werk und seine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte. Die Edition ist nicht nur für Filmfans, sondern auch für Historiker, Politikwissenschaftler und alle, die sich für die Fragen der Schuld, der Verantwortung und der Versöhnung interessieren, von großem Wert. Sie ist eine unverzichtbare Ergänzung für jede anspruchsvolle Filmsammlung und ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit.